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YogaZeitgeschehen

Yoga & Sport: Sammlung versus Zerstreuung

Ich laufe gerne. Von dem Allgäuer Berg, auf dem ich wohne, hinunter ins Tal zu meinem Büro, wo ich arbeite. Die 40-minütige gemütliche Wanderung führt über sonnige Wiesen und von Wildblumen und Beeren gesäumte Pfade, durch schattige Wälder an Kuhweiden und plätschernden Bächen vorbei bis ins Dorf. Ich genieße das lebendige Spiel der Natur und das sich im Laufe der Jahreszeit verändernde Naturgeschehen. Die entschleunigende, beinahe tägliche Wanderung zu meiner Arbeitsstelle belebt meinen Körper und beruhigt meinen Geist, hin zu den wesentlichen Gedanken, die in Klarheit und Schärfe vom Duft der Natur großzügig ihre Würze erfahren. Am schönsten sind jedoch jene herzöffnenden Momente, in denen ich mich mit der Natur so verbunden fühle, dass die klare Wahrnehmung der geräuschvollen Stille des Waldes, der Farben, Formen und der Gerüche des Lebens in den Vordergrund rückt und mein Bewusstsein bildet.

Gelegentlich begegnen mir auch Menschen. Die meisten davon sind bis ins kleinste Detail sehr gut gekleidet, da sie von der Sportartikelindustrie perfekt für jede Witterung ausgerüstet wurden. Diese sorgt sich um ihr Klientel, wie einst unsere Mamas sich um uns sorgten, als wir nach draußen zum Spielen gehen durften: Passende, ordentliche Kleidung mit entsprechender Unterwäsche, damit man nicht zu sehr schwitzt oder friert und sich einen Schnupfen holt, einen Helm, damit der Kopf heile bleibt, eine getönte Brille gegen Sonne, Wind und Naturfarben, sowie festes Schuhwerk und natürlich das passende Spielzeug als Sportgerät.

Beim verträumten In-den-Wald-Hineinlauschen höre ich dann schon von ferne das von lautem Hausfrauentratsch begleitete mechanische Klacken dahineilender Walkingstöcke oder das gleichmäßige Surren gut geölter Mountainbike-Ketten oder den verhalten und metallisch aus iPod-Kopfhörern dringenden „run on beat“-Sound schwitzender Jogger.

Natürlich mache ich mir dann Gedanken, was Yoga, also die Verbindung mit der Quelle des Lebens, und Sport miteinander zu tun haben könnten.

So stehe ich nachdenklich am Ende eines Wiesenpfads, der über eine Lichtung führt, die von verlockend leuch­tenden Himbeersträuchern übersät ist und in einen steil ansteigenden Waldweg mündet, als das Surren der geölten Biker-Ketten lauter wird. Eine Gruppe von Mountainbikern, zwölf drahtige Männer und Frauen, rauscht in bunten Trikots knapp an mir vorbei, tief hängend in ihren Maschinen und vollständig absorbiert vom gleichförmigen Tretrhythmus der Pedale. Sie scheinen in einer Art Rausch zu sein – oder was auch immer. Jedenfalls sehen sie mich nicht, und ich staune nicht schlecht über meine plötzliche Unsichtbarwerdung – offensichtlich als ein Teil des Waldes.

Der Begriff Sport stammt vom lateinischen disportare („sich zerstreuen“) und nahm seinen Ausgangspunkt im frisch industrialisierten England des 18. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen von Maschinen und Technik verloren wir Menschen unsere natürlichen Bewegungen. Bewegungen mussten fortan an Takt und Rhythmus von Maschinen und Geräten angepasst werden und verkümmerten zu künstlichen Fragmenten, ohne einen Ursprung oder ein Ende zu haben. Millionen von Jahre natürlicher Bewegungsentwicklung fanden ihr jähes Ende im Zwangskorsett der Technisierung – und ein Ende ist nicht in Sicht. Da Zwangausübung als Folge Zwangsneurosen produziert, steht uns heute eine bunte Welt schier unzähliger Sportarten zu Verfügung, von deren Ausübung wir uns Linderung und Befreiung versprechen. So sind wir gefangen in aus dem Zusammenhang gerissenen, künstlichen Bewegungen. Wir schwimmen, paddeln oder rudern, ohne am anderen Ufer ankommen zu wollen. Wir rennen unsere Runden, ohne dass wir in Gefahr, auf der Flucht oder auf der Jagd wären. Wir heben Gewichte, ohne etwas zu erbauen. Wir wetteifern in sportlichen Wettkämpfen mit der Zeit, um ihr immer noch mehr hundertstel Sekunden abzuluchsen. Das alles mit dem (todes)sehnsüchtigen Ziel, sie schlussendlich zu besiegen, um am Ende schneller als sie selbst zu sein. Und dann?

Im Yoga spricht man gerne von „Gegenwärtig-Sein“ und von „Bewusstsein“. Wir wissen, dass dies etwas mit Sammlung und Konzentration zu tun hat. Gleichzeitig erfordert es, dass man sich dem Geschehen der Gegenwart öffnet. Und dieses Geschehen ist nun einmal unabdingbar mit dem Ort verknüpft, an dem wir gerade sind. Orte werfen das Geschehende aus. Begegnen wir nun diesem örtlichen Geschehen mit unserer Vorstellungsbrille, kann sich das gegenwärtige Prinzip nicht in unserem Bewusstsein entfalten.

Sportarten sind wegen ihrer zwangsneurotischen Herkunft von Vorstellungszwängen geradezu überwuchert, die sich in den unzähligen Konzepten, Methoden, Funktionen und Geräten widerspiegeln. Meine langjährige persönliche Erfahrung mit der Ausübung und Beobachtung verschiedenster Sportarten ist der zwangsläufige Verlust von Gegenwart mit der Konsequenz, mehr und mehr in eine „ortlose“ und „zerstreute“ Existenz einzugehen.

Deshalb erscheinen die zwölf Mountainbiker im Wald in ihren bunten Rennfahreranzügen auf ihren Hightech-Maschinen wie seltsam anmutende Außerirdische – gegenwartslose Gestalten – ohne eine Verbindung zu dieser Welt, und sie lassen mich mit den Himbeersträuchern allein in der Unsichtbarkeit des Waldes zurück.

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