© iStock/Vizerskaya
Gesundheit

Anlehnungsbedürfnisse

Warum haben Rückenschmerzen und Bandscheibenvorfälle in den letzten Jahren so dramatisch zugenommen? Experten zufolge liegen die Ursachen in Bewegungsmangel und Fehlhaltungen, die unser von den Prinzipien der Natur weit entrückter Lebens- und Berufsalltag mit sich bringen. Schweizer Mediziner fanden vor einigen Jahren in einer mehrjährigen Studie heraus, dass der Grund für Rückenprobleme weniger in verschlissenen Bandscheiben liegt, sondern vielmehr die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, d.h. die von der eigenen Natur entfremdete Berufsausübung, eine Erkrankung unseres Rückgrats in hohem Maße begünstigt.

Damit unsere Wirbelsäule ihre Bestimmung und eigene Statik aufrechterhalten kann, benötigen die Bandscheiben eine ausreichende Versorgung durch einen intakten, nährenden Flüssigkeitsaustausch. Ist dieser physiologische Ernährungsstrom vermindert oder unterbrochen, ist die Stoßdämpferfunktion in den Wirbeln nicht mehr gewährleistet. Auch das Gehirn, das durch die Dämpferfunktion der Bandscheiben geschützt werden soll, ist den zunehmenden Erschütterungen mehr und mehr ausgeliefert.

Das Hauptmerkmal der menschlichen Wirbelsäule ist ihre Fähigkeit zur Aufrichtung. In der deutschen Sprache ist die Wortverwandtschaft von „Aufrichtung“ und „Aufrichtigkeit“ deutlich. „Aufrichtig sein“ bedeutet, die eigene Natur oder Wesensart unverfälscht zu leben und zu sich zu stehen, oder präziser: aus der eigenen Haltung heraus im Leben zu stehen. Ist es uns nicht oder nur schwer möglich, eine aus dem eigenen Naturell genährte Haltung einzunehmen, können wir vorsichtig von einem „Haltungsschaden“ sprechen. Die deutsche Sprache entschlüsselt uns in dem Wort „Haltung“ gleich mehrere Dimensionen. Zum einen verwenden wir den Begriff, um eine körperliche Statik zu beschreiben; zum anderen wird damit auch eine geistig-seelische Auffassung benannt, also mit welcher geistigen Haltung der Einzelne durchs Leben geht. Wir können deshalb sehen, dass unsere Körperhaltung untrennbar mit unserer geistigen und seelischen Haltung verbunden ist. An diesem Punkt entscheidet es sich, ob unsere Wirbelsäule aus eigener Kraft genährt werden kann und dadurch jene Aufrichtung erfährt, die notwendig ist, uns eine „Statik der Aufrichtigkeit“ zu geben.

Aufrichtigkeit macht es erforderlich, Stöße und Angriffe von außen hinnehmen zu können, ohne dass unser Gehirn, sprich unser Denken und damit unserer geistige Haltung, allzu sehr erschüttert werden können. Deshalb zähle ich die Wirbelsäule zu einem wesentlichen Teil des menschlichen Immunsystems, dessen Aufgabe es ist, unsere körperliche, seelische und geistige Eigenart zu schützen und zu bewahren.

Sind die Lebensströme des eigenen Naturells gestört, wird es schwer sein, die Aufrichtung aus eigener Kraft zu finden und aufrechterhalten zu können. Hier sind wir gezwungen, uns an etwas oder jemanden anzulehnen, um gestützt zu werden. Wir lehnen uns an etwas Fremdes an, das auf geistiger und seelischer Ebene all die unzähligen fremdbestimmenden Kräfte und Haltungen repräsentiert – ideologisch, spirituell, beruflich, in Partnerschaften etc.  –,  um darin ersatzweise Halt zu finden. Jedoch ist das Anlehnen an Fremdes voller Tücken. Ein jahrelang ausgeübtes, mehr oder weniger „unsichtbares“ Anlehnen an fremde Haltungen kann rasch zu subtilen Verschiebungen in der eigenen Körperstatik führen. Das in fremder Lebenshaltung eingenommene Leben ist vermehrt Druck und Zwängen ausgesetzt, die sich durchaus körperlich als Belastungsausbruch in den Bandscheiben manifestieren können.

Diese Krise ist jedoch gut, so schmerzhaft sie auch sein mag. Denn sie holt uns aus den für uns falschen Haltungen des Lebens heraus. An diesem Punkt kann die Beschäftigung mit Yoga durchaus hilfreich sein, solange dieser nicht seinerseits als ideologisches Substitut die eigene Lebenshaltung erneut zu verbiegen versucht. Es ist hier vielmehr der selbsterforschende Bereich ursprünglich yogischen Denkens von Bedeutung, in dessen Entfaltung der Zugang zur eigenen Empfindungswelt offengelegt zu werden vermag.

Das eigene Empfinden fließt, unabhängig von den Meinungen der Welt, als nährender Strom durch die Landschaften unserer Seele. Es befeuchtet die Auen unserer Anschauungen und bewahrt unsere Wirbelsäule als stetig und sanft strömendes Bächlein vor Austrocknung und Zerfall.

Hinterlasse einen Kommentar