Könnte etwa jemand, der sich den Prozessen des Yoga wirklich hingibt, nicht ganz dicht sein? Die Aussage, „nicht ganz dicht zu sein“, wird gerne von jenen abfällig gebraucht, die sich ihrer eigenen Dichtheit ziemlich sicher wähnen. Staudämme, innere wie äußere, gehören ebenso zu diesem Typus wie alles, was von uns Menschen künstlich wasserdicht, erddicht, luftdicht und lichtdicht gemacht oder verschlossen wird – einschließlich uns selber. Dabei geht es offensichtlich immer darum, im Namen von Sicherheit, Trennung und Abspaltung das natürlich Fließende, Wachsende, sich Entwickelnde und sich Bewegende unter Kontrolle zu bekommen. Mit dem Ergebnis, dass die Urströme des Schöpferischen in uns aufgestaut und blockiert werden und der heilige Brunnen der Inspiration, auch Intuition genannt, Verschüttung erfährt. Nicht nur der vom Materienwahn versponnene Mensch, der nur das Materielle als seinen alleinigen und höchsten Gott anerkennt und verehrt, sondern auch der vor religiösem Fanatismus Brennende betet hingebungsvoll die Kräfte der Dichtheit an und manifestiert diese in seiner und in der Welt seiner Mitlebewesen.
Diese Bollwerke der Dichtheit erwirken wegen ihrer Undurchdringbarkeit allesamt den hohen Preis des Schattenwurfs. So entstehen Schatten des Wassers, Schatten der Erde, Schatten der Luft und – vor allem – Schatten des Lichts. Diese Lebensräume der Schatten – oder besser „Schattenreiche“ – wuchsen in den vergangenen Jahrtausenden zur übermächtigen, unterdrückenden Größe auf der Erde, sowohl in uns als auch um uns herum, und boten und bieten einer Vielzahl von grausamen Schattenwesen, auf Sanskrit „Asuras“ genannt, Nahrung und einen gedeihlichen Tummelplatz der Entfaltung.
Eines der bedeutendsten Meisterwerke der Schattenbaumeister war die Errichtung einer der größten „geistigen Staudämme“ der jüngeren Menschheitsgeschichte: die Abspaltung der Menschen von ihrer natürlichen, geistigen Verbindung zur Sonne. Über Jahrhunderttausende hatte das Menschenwesen die intime Verbundenheit zu seinem Lebensspender und Entwicklungsförderer, zu seinem „guten Gärtner“ geehrt, gefeiert und geheiligt – es den Planeten-, den Tier- und Pflanzenwesen gleichgetan. Als schließlich dunkle Gesellen, mit der Errichtung des Machtapparats der christlichen Kirchen betraut, damit begannen, das Sonnenwesen zu entehren, indem sie seine Anbetung als heidnisch, abergläubisch und ketzerisch verdammten, kreuzigten sie den Christus und das durch ihn wirkende Bewusstsein durch Verhöhnung seiner lichtvollen Sonnenheimat zum zweiten Mal. Wie irrsinnig, blind und umnachtet können Menschen sein, dass sie die Verehrung des offensichtlichsten Prinzips der Erhaltung und Förderung des Lebens auf unserem Planeten unterdrückten und unter Strafe stellten?! Mit all den gewaltsamen und quälenden Auswirkungen bis in unsere Gegenwart hinein.
„Es liegt an uns Menschen, wie viel wir dem liebenden Licht an dichtem Mauerwerk entgegenstellen, und ob wir aus unseren selbst errichteten Schattenwelten hervorzutreten und diese zu verwandeln vermögen.“
In Kulturen hingegen, in denen durch eine beseelte spirituelle Orientierung die Ent-dichtung, die Durchlässigkeit und die Vergeistigung des Menschen gefördert wurde, spielte die Hingabe an das geistige Sonnenwesen der Liebe immer eine bedeutende Rolle. So auch im Yoga, wo seit alters her durch Sonnengebete die innige Nähe zu Surya, dem „Juwel am Himmel“, gesucht wird.
Surya, das Sonnenwesen, erzählt uns in seinem leuchtenden Vorbilde von der tiefgründigen Einfachheit kosmischer Zusammenhänge, Kräfte und Prinzipien. Die Sonne kündet durch ihre Gestalt von einer vollkommenen Balance eines erleuchteten inneren und äußeren Lebens, was sich sowohl durch innere geistige als auch durch äußere, physikalisch wahrnehmbare Kräfte offenbart. Sucht der Mensch wieder Verbindung und Nähe zu ihr, fallen komplizierte und oftmals bis zur Unbegreifbarkeit verdrehte spirituelle Interpretationen und Deutungsversuche wie welkes Herbstlaub von ihm ab. Vom steten, bedingungslosen Fluss ihrer wärmenden Liebe und lichtvollen Strahlen durchströmt, wird der Mensch ermuntert, ihrem hohen Vorbilde nach zu ihrem Ebenbilde zu gedeihen, ja, wird sein Herz erweckt, es dem Sonnenhaften gleichzutun: pulsierend zu strömen, zu schöpfen, zu wärmen, zu lieben, zu erleuchten – ohne Unterschied und Bedingung. Es liegt an uns Menschen, wie viel wir dem liebenden Licht an dichtem Mauerwerk entgegenstellen, und ob wir aus unseren selbst errichteten Schattenwelten hervorzutreten und diese zu verwandeln vermögen.
Das Sonnenwesen zu ehren, bedarf keines Vermittlers, keines Priesters, keines Schamanen, keines Lehrers, keiner Institution, keiner Ablasszahlungen und keiner Schrift. Jeder Mensch ist an jedem Ort der Welt durch sein offenes Herz mit der Sonne verbunden. Sie kennt die Antworten auf die großen Fragen und Geheimnisse des Lebens. Sie ergießt unermüdlich unendliche Ströme von Lebenskraft, von Prana auf die Erde, um das Leben zu fördern, die Erschöpften zu kräftigen, die Düsteren zu erhellen, die Schwermütigen zu erleichtern, die Hassenden zu besänftigen und die Unwissenden zu erleuchten. Eine einzige Bitte gibt es jedoch, die das Sonnenwesen an uns richtet: „Seid doch bitte nicht ganz dicht.“