Gerne wird im Zusammenhang mit Yoga von „Gegenwärtigkeit“, der „Kraft der Gegenwart“ oder von „ganz im Moment sein“ gesprochen. Und gerne wird, nachdem durch yogische oder andere Übungen an diesem Impuls geschnuppert wurde, wieder zu den mobilen Alltagsgewohnheiten übergegangen. Man nutzt hierfür beispielsweise Instagram, WhatsApp, Facebook, Twitter sowie zahlreiche andere gefeierte Medienströme und -geräte bzw. Ausübungen, die am Prinzip der Gegenwärtigkeit kein Interesse haben. Im Gegenteil, sie arbeiten durch ihre Unnatur, d.h. ihre Künstlichkeit, an der Zerstörung derselben. Sie spielen mit der bewussten Trennung von Raum bzw. Ort und Zeit, d.h. sie entfernen den Menschen aus seiner Gegenwärtigkeit, aus dem Hier und Jetzt und lenken seinen Gedanken- und Empfindungsstrom von sich selbst und seinem Wesen ab. Sie locken ihn in eine Zwischenwelt, so dass er, bei entsprechender Sucht und Anhaftung, bei übermäßigem „Gefallen“ leicht zum „Gefallen-en“ werden kann, und damit zum Abwesenden seiner selbst.
Yoga kann als eine Erfahrung beschrieben werden, die immer dann erlebbar wird, wenn sich das wirkliche und wahre Wesen, das „himmlische Wesen“ in uns, entblättert und offenbart. Bis jedoch eine solche Erfahrung Gestalt annimmt, ist meist ein langer und mühevoller Weg zu gehen. Wie beim Offenlegen eines Artischockenherzens, sind zuvor Schicht um Schicht und Blatt um Blatt abzutragen. Vielleicht schmeckt das eine oder andere Blatt zusammen mit einem leckeren Dipp besonders gut. Wieder andere Blätter können schockierend bitter sein. Dann kommt schließlich der holzige, faserige Teil, der das innerste Herz umgibt, das auf Enthüllung wartet.
Für die Wege der Enthüllung und Offenlegung des innersten Herzens wurde das Menschenwesen aus den heiligen Quellen des Yoga die Kunst der Meditation gelehrt. Meditation birgt Kraftströme in sich, mithilfe derer sich Raum (Ort) und Zeit zu einem immer feiner werdenden Gewebe der Gegenwärtigkeit weben lassen.
Ein weitaus tiefsinnigerer Begriff als „Gegenwart“ ist jedoch das Wort „Anwesenheit“. Und damit stellt sich auf das Leben bezogen die Frage: „Ab wann bin ich der Anwesende in meinem eigenen Leben?“ Oder bin ich noch abwesend und tue nur so, als ob ich anwesend wäre? Anwesend und abwesend sprechen das Wesen in uns an. „Wesen“ hieß früher im Althochdeutschen „wesan“ und bedeutete schlicht „sein“. Die Offenbarung des eigenen Seins-Wesen ist also Voraussetzung dafür, dass ein Mensch überhaupt Anwesenheit in seinem Leben erlangt und damit seine ureigene Gestalt annehmen kann. Gestalt ist immer Ausdruck eines Wesens von etwas, also eines beseelten und lebendigen Inneren.
Was nun geschieht, wenn Instagram, WhatsApp, Facebook, Twitter, Internet, Fernsehen & Co. und all die anderen künstlichen Intelligenzen die Oberhand in unserem Leben gewinnen, ist, dass wir unser eigenes Anwesen verlassen, und damit auch unsere Gestalt verlieren, oder nie auszubilden imstande sind.
Nun kann gestaltlos ins Leben geworfen zu werden dramatische Folgen haben. Denn ohne den bildenden, schöpferischen Kraftstrom des eigenen Wesens ist der Mensch darauf angewiesen, sich in der äußeren Welt Haltegriffe zu suchen. Dazu schielt er nach künstlichen Modellen, an denen seine Vorstellung gefallen finden könnte, kopiert sie eben zu sich rüber, und nistet sich in einer fremden Modellidentität ein. Diese kann sogar bis zur schieren Perfektion, bis zur scheinbaren und schillernden Echtheit modelliert werden. Doch das Problem besteht nach wie vor: Das eigene Wesen ist noch immer abwesend, und man lebt nur in einem Modell, in einem Modell der Gegenwartslosigkeit.
Der industrielle Impuls unserer allein an materialistischer Kapitalvermehrung interessierten Gesellschaften fördert diese Vorgänge. Möglicherweise hat er sie sogar im Besonderen hervorgebracht. An jedem neuen Modell, das produziert wird, können theoretisch Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen von Menschen derart Gefallen finden, dass sie das neue Modell kopieren möchten. Und gegen entsprechende Bezahlung ist dies auch jederzeit möglich.
Die Selbsterfahrungsprozesse des Yoga hingegen können uns wieder mehr mit dem inneren himmlischen Wesen in Berührung bringen und den Kraftstrom der eigenen schöpferischen Impulse erwecken. Dieser Kraftstrom, der Strom der Shakti-Devi, der Göttin, spült – einmal erwacht – alle Modelle und Plagiate mit sich fort und weiht sie dem Untergang. Indem die Göttin dies tut, schenkt sie barmherzig allen in die Flucht Geschlagenen und aus sich selbst Vertriebenen wieder ein Stück Heimat in Form der Rückführung zur eigenen Seelengestalt.