Was tun, wenn sich die Ereignisse in unserem Leben oder Lebensumfeld überschlagen? Wenn wir uns von einem aufregenden, traurigen oder sensationellen Ereignis zum nächsten jagen lassen – privat, politisch, weltpolitisch. Wenn sich die Kettenabfolgen der Geschehen in einer derartigen Geschwindigkeit und Irrsinnigkeit abspulen, dass unser gewohntes Mittel – nämlich verstehen zu wollen – ad absurdum geführt wird und unser Verstand kapitulierend zusammenbricht, da seine Funktionsgrundlage die Logik ist. Und wenn wir, entgegen unserer hypnotischen Programmierung auf logische Zusammenhänge, den Einbruch der Kräfte des Unlogischen in unserer Welt mehr und mehr hinnehmen müssen – ratlos, expertenlos, sprachlos wie in einem schlimmen Albtraum. Aber Träume sind ja zum Glück nicht wirklich, sagt uns unser logischer Verstand – oder etwa doch?
In der yogischen Anschauung wird der Stoff, aus dem unsere Träume gewoben sind, als „Maya“ bezeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein nächtlicher Traum, ein Wunschtraum, ein Lebenstraum, ein Schöpfungstraum oder ein Albtraum ist. Da jeder Traum irgendwann ausgeträumt ist und durch Platzen der „End-täuschung“ oder Auflösung zugeführt wird, sind dem Wesen der Maya Kräfte wie Täuschung und Illusion nahe. Maya wird im Yoga gerne vereinfacht auf nur diese zwei Begrifflichkeiten reduziert. Maya ist aber bei weitem komplexer und tiefer: Maya ist reine Schöpferkraft, ist bejahender, mutterweiblicher Natur, ist die gewebe- bzw. „geweibe“-bildende Kraft der manifestierten Welten des Universums. Sie umfasst alles, was nicht von Dauer ist, was vergänglich ist. Sie ist das, was wir aus dem Einen bilden, uns „ein-bilden“, und so vermittels unseres Schöpfungstraumes als Schöpferwesen erschaffen. Maya ist die Welt unserer Leiber und Hüllen, die unser lebendiges, atmisches Wesen, unsere Wesentlichkeit, unser Wesenslicht in das Kleid der Persönlichkeit hüllt, und dem Leben das Leiben mit seinen Erfahrungen und Spiegelungen ermöglicht. Diese heilige Schöpferkraft wickelt unser lebendiges, göttliches Wesen in Hülle und Fülle ein, wickelt es auf, und verwickelt es dabei nur allzu gerne in packende Traumgeschichten, die derart fesselnd sein können, dass sie uns ergreifen, und die häufig so verlockend erscheinen, dass wir nach ihnen greifen wollen.
Doch im „Ka-leid-oskop“ der schier unendlichen Formenvielfalt und –muster, in die sich das Menschenwesen seit jeher kleidet, um Persönlichkeiten unterschiedlichster Dichte heranzubilden, wird das Leiden im „K-leiden“ als feste Konstante sichtbar. Das Leiden jedoch – und dies ist wohl sein schöpferischer Sinn – provoziert in manchen den Wunsch, die übereinandergeschichteten, aufgewickelten Kleiderhüllen abzutragen, sie zu entwickeln, sich zu entwickeln, um das nackte, ursprüngliche und heile Wesen in sich selbst zu entblößen: Um bloß zu sein, um los zu sein. Im „Los-lassen“ entwickelt der Yogi sein wahres, lebendiges Wesen. Auf diese Weise kann er vom Ergreifenden und Ergriffenen lassen. Kann ohne von Verstand und Emotionen gerüttelt und geschüttelt zu werden aus einem liebenden Geiste schöpfen.
Nun steht ihm die Kraft und die Weisheit des geheimnisvollen, mystischen Fabelwesens des „Greif“ zur Verfügung. Das Bewusstsein dieses mythischen Mischwesens aus Löwe und Adler wurde schon im alten Ägypten all jenen Eingeweihten und Adepten zuteil, die auf dem mühevollen Weg der selbsterkennenden Erleuchtung ihr wahres Wesen entblättern durften. Das Greifwesen des Sonnengeistes hat Reife im Greifen erlangt.
Die Reife, vom eigenen Schöpfungstraum weder ergriffen zu werden noch nach ihm zu greifen, vermag den Träumer des Traumes in seinem wahren und wirklichen Wesen zu enthüllen. Seine Vibrationen durchströmen die durch unsere „T-räume“ erschaffenen „Räume“. Es ist diese eine lebendige Kraft, die alles Erschaffene und Nicht-Erschaffene mit dem alltranszendenten, urklingenden und lebendigen Puls Gottes durchpulst. Die als schwingendes und klingendes „AUM“ der Schöpferkraft der Maya den Bildestoff für ihren „TR-AUM“ liefert. Dieses eine, gottlebendige Wesen wird in Indien als „Brahman“, als „Prach-man“ angesprochen – als das „pracht-volle“ eine Leben, außerhalb dessen es nichts gibt, da es „all-ein“ ist. Träumen bzw. schöpfen wir unsere Welt aus unserem „all-einigen“ Wesen, so erschaffen wir aus heiterem Himmel einen „gott-heiteren“ Weltenleib, der im tanzenden Traumspiel der Maya liebt und lebt.
Ein solcher Traum ist jederzeit bereit zu platzen – um neuen Platz zu schaffen.