Hast du schon einmal bei einer Wanderung einen reißenden Fluss durchquert? Ich denke da an einen kalten, eisigen Gebirgsfluss, der gerade mal so tief ist, dass du im kristallklaren Wasser noch einigermaßen stehen kannst. Damit man bei der Durchquerung nicht, von den unberechenbaren Strömungen erfasst, auf den glitschigen Flusssteinen ausrutscht und fortgerissen wird, ist es sicher ratsam, sich vorher im Wald einen größeren Holzstock als Wanderstab zu suchen, an dem man sich gut festhalten kann, und der einem im Strömen und tosenden Rauschen der Wassermassen ein wenig Halt gibt. Um möglichst sicher und mit trockenem Gepäck am anderen Ufer anzukommen. Denn dort möchtest du ja hin. Oder?
Als du damit begannst, in den Fluss des Yoga einzutauchen, erging es dir möglicherweise ähnlich. Vielleicht hast du gespürt, dass es ein großer Fluss ist, ein wilder, ein strömender, einer mit vielen Untiefen, Stromschnellen und Unwägbarkeiten. Also hast du dir – wie bei deiner Wanderung – zuerst einen hölzernen Stock geholt, zur Sicherheit. Den Stiel mit beiden Händen fest umklammernd, bist du dann in den Fluss des Yoga gestiegen. Deinen Blick immerzu fest auf die Stelle am anderen Ufer gerichtet, die du erreichen willst. Es ist eine hübsche Stelle, die du dir ausgesucht hast, drüben am anderen Ufer. Vielleicht hat man sie dir auch gezeigt. Ein kleiner Sandstrand, genügend Sonnenlicht, aber auch ausreichend schattenspendende Bäume in einladenden, satten grünen Farben. Ein richtiges kleines Paradies zum Verweilen. Und du hast das Gefühl, endlich mal an einem Ort sein zu können, wo nicht jeder hinkommt. Denn du sehnst dich danach, hin und wieder allein sein zu können und dich zu entspannen.
So hast du dich also auf den Weg gemacht, bist am Ufer erst vorsichtig hineingewatet, und bist nun im Begriff, immer weiter hineinzugehen in den Fluss des Yoga, deinen Wanderstab oder Stiel mit den Händen immer noch fest umschlossen haltend, denn dein Stil, dein Yoga-Stil ist es, der dir Sicherheit gibt – auf der Reise durch den Fluss des Yoga.
Vielleicht haben diejenigen, die dir den Stil gegeben haben, dir auch den Ort deiner Sehnsucht am anderen Ufer gezeigt? Vielleicht haben sie dir alles genau beschrieben, was du vorfinden wirst, wenn du drüben ankommst: wie gut es dir tun wird, wie du dich fühlen wirst, und was diese wichtige Erfahrung alles mit dir machen wird? Aber du weißt es natürlich selbst am besten.
Jetzt bist du schon fast in der Mitte des Flusses angelangt. Die zunehmende Heftigkeit der Strömung fordert deine ganze Aufmerksamkeit. Achtsam setzt du deine Füße Schritt um Schritt auf die rutschigen Steine unterschiedlicher Größe. Dein Atem pendelt zwischen Anspannung und Entspannung. Das Wasser ist so eisig kalt, dass es anfängt weh zu tun. Und die Strömungskräfte nehmen zu. Du hast jetzt Angst, den Halt zu verlieren und in die Stromschnelle gerissen zu werden. Und da, kaum hast du diese Angst bewusst gefühlt, kippt ein Stein unter einem deiner Füße weg. Du taumelst, verlierst das Gleichgewicht, dein Stock greift ins Leere, er gleitet dir aus der Hand, und du wirst von der Strömung fortgerissen.
Anfänglich wehrst du dich vielleicht noch, versuchst wieder und immer wieder, einen neuen Halt zu finden. Doch die Strömung ist zu stark, gefährlich stark. Im Toben und Brausen wirst du hin- und hergerissen, mal nach oben, mal nach unten gedrückt. Du kämpfst gegen das Wasser an und versuchst dich gleichzeitig mit Händen und Armen vor Steinen und Felsen zu schützen. Du schnappst nach Luft. Du schluckst Wasser. Du hustest, erbrichst, musst dich übergeben.
Dann ist es plötzlich ruhig geworden. Wie durch ein Wunder hast du die Stromschnelle einigermaßen unverletzt hinter dir gelassen. Jetzt treibst du in ruhigem Gewässer dahin. Lichtfunken tanzen glitzernd auf seiner Oberfläche. Stille ist eingekehrt in dir, im Fluss, in allem.
„Indus“ sagen sie im Sanskrit zum Fluss. Das Indus-Tal entlang des realen Indus-Flusses im heutigen Pakistan wird als die Wiege der uralten vedischen Kultur angesehen. Gut möglich, dass dort, vor tausenden von Jahren, nach dem Untergang der atlantischen Menschheit, der Manu, der Urvater des Menschengeschlechts, aus dem Himalaya herabstieg und die ersten Menschen der neuen Menschheit in den Geist des Yoga einweihte.
Dies ist lange her. Und der Yoga hat seitdem viele Veränderungen durchmachen müssen. Es wurden Aspekte weggelassen, hinzugefügt. Es gab Fusionen, Verdrehungen, Abspaltungen … Auch dies ist Teil des Flusses.
Und niemand kann heute für sich behaupten, zu wissen, welches der „richtigste“ aller Yogas ist: weder die Traditionalisten noch die Stilisten. Das Einzige, was wir tun können, ist, die Halte-Stile des Yoga und die Vorstellungen vom anderen Ufer immer wieder loszulassen. Denn erst im Loslassen des Stils können wir das Reich der Stille betreten. Sich an einem Stil festzuhalten, kann für eine gewisse Zeit sinnvoll sein. Um beispielsweise den Fluss kennenzulernen und langsam seinen Strömungen Vertrauen zu schenken. Es wird jedoch der Augenblick kommen, da dir die Torwächter beim Passieren der Schwelle am Tor zur ewigen Stille deinen Stock aus der Hand schlagen werden. Dann bist du also gezwungen, loszulassen.
Möchtest du den Geist des Yoga sich in seiner schöpferischen Kraft frei entfalten lassen, bedeutet das genau dies: Du lässt immer mehr los von dem, woran du festhältst. Du stirbst Stütze um Stütze, Haltegriff um Haltegriff, Hülle um Hülle, Blatt um Blatt. Du entwickelst dich, wickelst dich aus, du übergibst dich, um in deinem inneren Wesen als Lebe- und Liebewesen Gottes, in deinem „Sat-Chit-Ananda-Wesen“, das du ewig bist, zu erwachen.
Niemand kann voraussagen, wohin die Reise jetzt gehen mag. Denn alles fließt lebendig dahin. Jetzt bist du wieder selbst zum Fluss, zum „Indus“ geworden. Oder „wortklangschmeckend“: Jetzt bist du „In-deus“, in Gott, gestorben, hast dich in den Fluss Gottes hineinsterben dürfen. „Ster-ben“ heißt hier, wieder zu dem „Stern“ zu werden, der ich in meinem Wesen „bin“. Letztlich nichts als ein atmischer „Sternenfunke“ Gottes.
Und du spürst: Es war gar nicht so wichtig, mit deinem Stil in der Hand am anderen Ufer anzukommen.