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Immer mehr Selfie-Tote weltweit

Weltweit machen täglich Millionen von Menschen Selfies. Auch die Anzahl der Todesfälle von Personen, die beim Erstellen von digitalen Selbstportraits aus Unachtsamkeit verunglücken, nimmt laut Statistik kontinuierlich zu. Ein Selfie zu machen, sich also selbst kontrolliert und inszeniert darzustellen, ist als Massenphänomen erst relativ jung und den Entwicklungen von Smartphone und Social-Media-Plattformen geschuldet. Doch schon mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert wurde dem wachsenden Bedürfnis, sich selbst darzustellen, der Weg bereitet, den einige Jahrhunderte zuvor der Maler Albrecht Dürer mit seinem berühmten Selbstbildnis als wohl erstem, bedeutendem „Selfie“ in der Malerei eingeläutet hatte.

Die Faszination, sich in das Bild seiner selbst zu verlieben, ist bereits in den mythologischen Überlieferungen der alten Griechen zu finden: in der Gestalt des schönen Jünglings Narziss, der sein entzückendes Antlitz in einer Wasserquelle erblickt und davon so ergriffen ist, dass er sich in sich selbst verliebt. Seine Eigenverliebtheit fesselt ihn so sehr, dass er für die Liebe anderer Geschöpfe blind und gefühllos wird. Trunken vom Anblick seiner selbst, wird er ins Wasser gesogen und ertrinkt, was ihn, nebenbei bemerkt, zu einem der ersten Selfie-Toten weltweit macht.

Im überaus starken Bilde, das uns die Mythologie überliefert hat, steckt eine eindringliche Erinnerung: Das, was wir in der Welt sehen (lat. spectare), ist eine Spiegelung (lat. speculum) unserer eigenen Schöpfungsprojektion, die permanent von unzähligen Gedanken-Gefühlen gespeist wird. Deshalb sehen wir die Welt immer nur so, wie unser Verstand sie sich vorstellt. Die gesamte Welt der Objekte und Formen ist damit nichts anderes als eine „Vor-stellung“, die uns mal freudvoll, mal schmerzvoll erscheint, und in deren Spiegel wir immer nur uns selbst betrachten können. Wenn wir uns mit dem Spiegelbild bis zum Grade der Verliebtheit oder gar Besessenheit identifizieren, dann vergessen wir, wer wir als unser atmisches Wesen wirklich sind, und verlieren somit unsere wahre Identität.

Das vergängliche Spektakel der Erscheinungen (Maya) wirft so die Reize seiner giftigen Tentakel aus. Allzu leicht sind wir verführt, nach ihnen zu greifen oder von ihnen ergriffen zu werden. Davon „narkotisiert“, ertrinkt der Mensch wie der griechische „Narkissos“ aus der Mythologie als der in seine Spiegelbilderscheinung verliebte Narziss im Mahlstrom der vergänglichen Welt der Maya. Da er der Welt der Erscheinung Glauben schenkt, wählt er statt inneren ewigen Lebens den leidvollen Pfad des Todes. So wird der Mensch vom Mühlrad des Samsara – dem Rad von Tod und Wiedergeburt – in schier unendlichen Abfolgen zerrieben, nur um wieder und wieder in einem Leib Erscheinung zu werden.

Die Weisheit des Yoga kann uns ein „Weg-weiser“ darin sein, die grob- und feinstoffliche Welt der Objekte in ihrem Schein, in ihrer „wahr-scheinlichen“, vergänglichen Natur zu erkennen. Zu den prinzipiellen Fragen des Yoga gehören deshalb: Was ist wahr? Was ist halbwahr? Was ist unwahr? Was ist nur der „Schein des Wahren“, jedoch nicht das Wahre selbst? Yoga kann uns in diesem Prozess mit viveka, mit höherer Unterscheidungskraft, anreichern, die uns ermächtigt, die Schleier des schönen Scheins dieser Welt zu erkennen und zu zerreißen. Wenn in tiefer Meditation und vollkommener Stille der Mahlstrom des Verstandesdenkens zur Ruhe kommt, zerfallen die Schleier der Maya augenblicklich zu nichts als Sternenstaub, und unser wahres Wesen enthüllt sich im Lichte reinen „Ge-wahr-seins“ als sat-chit-anandische Fülle.

Wir erkennen nicht, dass die Neigung, sich als Narziss in eine Vorstellung von sich zu „verlieben“ und andere an dieser Täuschung teilhaben zu lassen, uns vom höchsten Selbst als dem ewigen und unendlichen Brahman entfernt.

Unterdessen ist der vom „Wahn-sinn“ der materiellen Objekte und den Duellen der Dualität narkotisierte Menschen-Narziss zum fanatischen Anhänger der Religion des Verstandesglaubens geworden. Als derzeit wohl mächtigste religiöse Strömung der Menschheit projiziert diese ihr Glaubensbekenntnis vom kleinen, sterblichen „Selfie“ auf unser wahres, atmisches Wesen und überlagert dadurch das unsterbliche Lebe- und Liebewesen in uns. Daher spüren so viele Menschen nicht mehr, dass mit jedem Veröffentlichen eines solchen inszenierten Vorstellungsbildes auf Social-Media-Plattformen, wie beispielsweise Facebook und Instagram, die Schleier der Verhüllung Gramm für Gramm „instant“ an Gewicht und Dichte zunehmen. Wir erkennen nicht, dass die Neigung, sich als Narziss in eine Vorstellung von sich zu „verlieben“ und andere an dieser Täuschung teilhaben zu lassen, uns vom höchsten Selbst als dem ewigen und unendlichen Brahman entfernt.

Auf dem Einweihungsweg des Yoga, der das bewusste Durchleben einer Vielzahl „kleiner Selfie-Tode“ beinhaltet, kann das Bewusstsein in einem solchen Grade reifen, dass der Klammergriff nach den sterblichen Hüllen nach und nach an Kraft verliert, und sich das Wesen, das unsterbliche Fülle ist, zu verwirklichen beginnt. Hierfür ist jedoch ein hohes Maß an Rückzug, Klärung und Stille erforderlich sowie die glühende Sehnsucht nach dem nicht-dualen, „ein-samigen“ Sein.

Die Fähigkeit, ins „ein-same“ Land der Stille einzutauchen, bedeutet, dass unsere samskarischen Depots, die mit Samen, Eindrücken und „Selfies“ unzähliger Handlungen angefüllt sind, sich zu entleeren beginnen. Aus diesen Depots werden die „citta-vrittis“, die Verstandesbewegungen, gespeist, die sich wie „Fritten“ als mentaler „Junkfood“ in endlosen Schleifen verstoffwechseln müssen. Kommen diese schließlich zur Ruhe, vermag der „Herzschlag“ Gottes in uns wieder spürbar zu werden. Diesem in unserem Inneren zu neuem Leben erwachten „Heart-beat“ entspringt auf zutiefst natürliche Weise ein pulsierendes, rhythmisches „Herzens-gebet“. Und so bete ich dieses Gebet, „ein-gebet-tet“ im „Heia-bett“ yogischer Wonne – als „Beatle Gottes“ sozusagen –, von ganzem Herzen:

„Himmlischer Vater – Brahman, Ishvara, Jahwe, Allah, Große Leere, Leben, Liebe – oder wie Du auch immer gerufen werden magst, und der Du bist in mir und ich in Dir: Erlösche vollständig das Feuer meiner Ich-Person mit den Wassern Deiner Reinheit. Radiere alle meine ‚Selfies‘ von Deiner Traumbildfläche aus. Und träume dich durch mich ganz pur, ganz purnamadah, als ‚Einfalls-pinsel‘, der als schöpferisches Traumwerkzeug auf dem Gewebe Deiner kosmischen Leinwand Dein Traumbild malt; und dabei die Farben und Formen des Lebens und Liebens aus Deinem unerschöpflichen Fülletopf des sat-chit-ananda – von Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit – schöpfen darf. Ich danke Dir, der Du bist in mir, von ganzem Herzen. OM.“

 

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