Ich schaue in die Welt und traue meinen Augen nicht. Denn wo ich auch hinblicke, sehe ich nur das Gesehene. Doch schon morgen ist das Gesehene von heute ganz verändert, und übermorgen womöglich verschwunden. Deshalb traue ich meinen Augen nicht.
Aber gleichzeitig spüre ich das starke Bedürfnis, zu trauen und zu vertrauen. Denn Misstrauen ist keine Option. Misstrauen trennt uns Menschen vom tiefen Empfinden allverbundenen Seins. Misstrauen entspringt nicht dem yogischen Geist, der in seiner Wohnstatt das Gift des Argwohns nicht kennt. Nicht zu „trau-en“, lässt uns „trau-rig“, ja schwermütig als Vermisste im Jammertal der dunklen Einsamkeit zurück.
Deshalb ermuntern uns die Überlieferungen des Yoga, uns zu trauen, also dem unveränderlichen Wesensprinzip in uns in tiefer Verbundenheit unser ganzes Vertrauen zu schenken. Das ist nicht einfach, denn dieses Prinzip ist in seiner Gänze für Sinne und Verstand unsichtbar. Es ist nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu riechen, nicht zu schmecken und nicht zu fassen. Gleichzeitig ist es paradoxerweise die Grundlage all dieser sinnlichen Erfahrungen. Nur der in Stille gegründete, achtsame und feine Geist vermag es allgegenwärtig zu erspüren, „wahr-zunehmen“, und wie hinter einem zarten Schleier in allem zu erahnen.
Das Prinzip hinter dem Schleier wird in den vedischen Überlieferungen als Brahman/Atman (das Absolute) bezeichnet oder als der „Gott ohne Eigenschaften“ (Nirguna-Brahman). Alle Versuche diesem Gott ohne Eigenschaften Attribute anzuhängen oder anzudichten, ihn für etwas einzuspannen oder etwas auf ihn zu projizieren, sind zum Scheitern verurteilt und lassen uns Menschen als bloße Narren zurück.
Doch dieses ursachenlose, namenlose, formlose, unveränderliche, allem – auch dir und mir – zugrunde liegende eine Wesen lässt auf geheimnisvolle Weise permanent Vertrauensimpulse in uns aufsteigen. Es ermuntert uns, stets zu vertrauen, IHM zu vertrauen. Trauen wir dem Prinzip des Brahman in uns, sind wir sogleich verbunden mit dem, was unser aller Wesen ist, sind wir yogisch „angejocht“, was wir im Schmelzprozess mystischer Vereinigung ganz sinnlich als friedvolles Jauchzen und Juchzen empfinden dürfen. Diese anandischen Empfindungen von Glückseligkeit, von liebendem Verliebt-Sein, schenken uns die grundlegende Kraft und den Mut, in unserem Vertrauen zu wachsen und immer weiter auf dem Weg der „Trauung“ zum heiligen „Trau-altar“ voranzuschreiten. Der Yoga unterweist den Menschen darin, mit entsprechenden Hochzeitsvorbereitungen zu beginnen und sich dem Empfinden des Trauens Schritt für Schritt ganz hinzugeben. Yoga bedeutet im Grunde, auf metaphysische Art und Weise zu heiraten.
Im ersten Schritt mag es hierfür notwendig sein, sich als von der Schöpfung „ge-braute“, formgewordene Person – als „Braut“ – anzuerkennen. Unabhängig davon, ob wir Mann oder Frau sind, wurden wir in der Brauerei der Schöpfung aus Shakti (Sanskrit = Energie) zur Braut gebraut und sind zu „Natur“ geworden. Als „Natura“ oder „Na-terra“, als „Natter Gottes“ sozusagen, tragen wir die geheimnisvolle „Schlangenkraft“ der Kundalini-Shakti als „Brautkraft“ in uns. Die Kundalini ist nicht nur in Indien, sondern auch im alten Ägypten als Uräusschlange, bei den Azteken
und Tolteken des alten Mexiko als Quetzalcoatl, und bei den Christen als Heiliger Geist bekannt. Als heiliges Prinzip der Schöpferkraft ist sie die B(r)aumeisterin der erschaffenen Welten mit allem, was darin enthalten ist. Da es ihr Wesen ist, sich „einzurollen“ (Sanskrit = kundala), hat sie sich auch in dich und mich „ein-ge-rollt“ und die uns entsprechende „Rolle“ auf der kosmischen Theaterbühne erschaffen, die wir als Persona ausfüllen dürfen. Sie gilt als kosmische „Ur-Braut“ und trägt als solche einen Schleier: den sinnlichen „Braut-Schleier“ der Maya, womit die relative, illusionäre – weil vergängliche – Welt bezeichnet wird. Mit ihrem Schleier verhüllt sie jenen EINEN (Brahman), der sie ausgesandt hat, um VIELE zu werden.
Entzündet der Yogi im zweiten Schritt das Kundalini-Feuer in sich, tritt die Braut im goldenen Funkenfeuer des erwachenden pranischen Stromes ihren feierlichen (Rück-)Weg zum Altar der Vermählung an. Schrittweise werden nun die unser wahres Wesen (Atman) umhüllenden Braut-Schleier verbrannt und unsere Ich-Person entblößt. Der Weg der Trauung stellt uns deshalb vor mächtige und transformierende Herausforderungen. Und er verläuft selten ohne Widerstände. Doch je näher wir dem Traualtar kommen, desto mehr sind wir aufgefordert, unser ganzes Potenzial an bedingungslosem, ja blindem Vertrauen hinzugeben.
Am Traualtar selbst wartet bereits der Geliebte als Bräutigam auf seine Braut, als Gatte auf seine Gattin, als Gotte auf seine Göttin, fest in sich ruhend, aus sich selbst strahlend und bedingungslos liebend. Dann kommt der erhabene Moment, wo wir aus tiefstem Herzen zum Geliebten sprechen: „Ja, ich traue“.
Er rief sie zurück in seine Heimstatt, sie vernahm den Ruf, und nun feiern sie im himmlischen Braut-Tanze die Unio mystica, die „Hoch-Zeit“ göttlicher „Ver-mählung“. Im samadhischen Akt kosmischer „Ver-mehlung“ werden die letzten aus den Schleiern gebildeten Unterschiede aufs Feinste „vermahlen“ und schließlich wieder zu EINEM „Laib“ gebacken.
Dieser non-duale „Leib“, der in unserem Sprachgebrauch auch als „Lieb“ oder „Leb“ Erwähnung findet, kann im Ganzen weder gesehen noch gehört, noch geschmeckt, noch gerochen, noch angefasst werden, und doch ist er in alldem pulsierend zu erahnen. Von Moment zu Moment, von Stille zu Stille immer wieder von Neuem als Ur-Vertrauen, als Trauung, als Treue zu dem, was einzig und allein „true“ (wahr) ist.