Als Moses auf dem Gottesberg Horeb die kosmische Gestalt Gottes in Form eines flammenden, brennenden Dornbusches erblickte, verhüllte er sein Gesicht, denn er fürchtete sich, in Gottes Antlitz zu schauen. Er wird seine guten Gründe dafür gehabt haben. Als Arjuna in der Bhagavad-Gita auf seiner Heldenreise in einer inneren Vision die kosmische Gestalt Gottes (Krishnas) erblickte, fürchtete auch er sich. Er zitterte vor Erschrecken, Verzückung und Erregung zugleich. Denn Krishna offenbarte ihm nicht nur seine liebliche, lichtvolle Deva-Gestalt, sondern auch seinen zerstörenden Aspekt: „Der Rachen der Unendlichkeit, der Kosmen kreisend Glutenmeer, in das ich abzustürzen droh, macht mir die Sinne schwinden, Herr.“ (Bhagavad-Gita 11, 25)
Als Robert Oppenheimer, der Baumeister der Atombombe, die kosmische Gestalt Gottes in Form der ersten Atomexplosion erblickte, empfand er eine Mischung aus Erleichterung, Stolz und Besorgnis. Nach der Explosion soll ihm ein Zitat aus der Bhagavad-Gita durch den Kopf gegangen sein: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ Auch er verhüllte, ähnlich wie Moses, seine Augen, um vom Atomblitz, der so hell erstrahlte wie das Licht von zehntausend Sonnen, nicht zu erblinden.
Moses und Arjuna waren, jeder auf seine Weise, in die Mysterienwege der Metaphysik eingeweiht. Sie erlebten ihre Visionen nicht auf der physischen Ebene mit ihren Sinnesaugen, sondern mit ihrem inneren, dem „Dritten Auge“, dem Auge reiner Wesensschau. Ihre Erfahrung diente einer tiefgreifenden spirituellen, seelischen Entwicklung. Sie machten eine Erleuchtungserfahrung im Sinne, dass ihnen einleuchtete, wer sie in ihrem Wesen wirklich sind.
Oppenheimer war Naturwissenschaftler mit spirituellen Interessen und brennenden Fragen zu den Geheimnissen der Schöpfung. Er studierte die Bhagavad-Gita auf Sanskrit. Er war in die „Mysterienwege“ der Atomphysik eingeweiht. Als Atomphysiker hatte er sich dafür entschieden, den empirischen Weg zu gehen. Dieser Weg nutzt das Instrument des Verstandes und will sich damit dem zentralen Kern, dem Geheimnis der Schöpfung nähern bzw. es erforschen. Der Verstand ist jedoch ein Wahrnehmungs- und Ausdrucksinstrument der Dualität, der Welt des Werdens, der veränderlichen Welt der Erscheinungen. Deshalb kann er das unveränderliche Sein, also das, was jenseits der phänomenischen Welt des Werdens ist, niemals erfassen, ohne an der Schwelle dahin vernichtet zu werden. Denn zum Sein kann man nicht werden – man kann nur identisch mit ihm sein.
Der attributlose Urgrund des Seins wird von den Weisen (Rshis) Indiens als Brahman – das Absolute – bezeichnet. Wenn sich der Verstand diesem im Geiste der Weisheit annähern möchte, sind die beiden Begriffe Neti Neti das Letzte, was ihm bleibt, bevor er den denkenden Löffel abgeben muss. Neti Neti bedeutet Nicht dies, Nicht dies. Damit wird der relativen Welt der Erscheinung (Maya) die absolute Wirklichkeit aberkannt. Erst durch diese Unterscheidungskraft vermag der yogische Mensch seine innere „Kernschmelze“ zu erleben, indem er, in der großen Stille samadhisch verschmelzend, mit seinem Wesenskern (Gott, Brahman, Atman) identisch bzw. eins ist. Er kehrt zurück nach Hause, zurück ins Heim – in seine wahre Wirklichkeit. Dies muss nicht spektakulär sein. Im Gegenteil: Die Spektakel der Welt gelangen hier an ihr natürliches Ende, damit sich das „Einfache“ ein für alle Mal und ohne ein Zweites enthüllen kann.
Im Gegensatz zur samadhisch friedlichen Kernschmelze im strahlenden Lichte der Erleuchtung gelingt dem empirischen Verstand bei Annäherung an den (Atom)-Kern, der bildlich dem Atman entspricht, nur die Spaltung, die Kernspaltung, denn er will gemäß seiner Natur verstehen, was im Kern drin ist. Da sich im Kern jedoch Gott bzw. das reine, nicht-verstehbare (Neti Neti) und unsichtbare Brahman befindet, wird durch den Vorgang der Kernspaltung das EINE mit seiner ganzen Macht in der Welt der Erscheinungen (Vielheit) entfesselt. Dies führt zur explosiven Zerstörung und Auflösung derselben. Man könnte auch sagen: zu einer erzwungenen, alles verschlingenden und alles atomar verstrahlenden „Zwangserleuchtung“, zu einem Pralaya (Auflösung), einem Weltenbrand, dem alles, was sich bis dahin nicht freiwillig im inneren Lichte der Erleuchtung selbst erkennen wollte, zum (Brand)-Opfer fällt. „Die Welten all` versinken so im glühenden Meer der Ewigkeit; das ganze All durchflammt Dein Licht – alles entwird in seiner Glut.“ (Bhagavad-Gita 11, 30)
„Oppen-heim-ers“ Schicksal war es, die Tür zum „Heim“ zu „oppnen“, zu „öffnen“. Da er dies mit empirischen Mitteln auf exoterische Art und Weise gewaltsam tut, zwingt er das große „Ge-heim-nis“ der Schöpfung sich auf einer Ebene zu offenbaren, die, entsprechend der Schöpfungsgesetze, unweigerlich eine Zerstörung derselben zur Folge hat. Er und zahlreiche andere daran beteiligte Menschen hätten gut daran getan, diesen Prozess nach innen zu nehmen. Einfach in der Stille. Als Kernfusion der Liebe – ohne viel Tamtam.