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Bleiben wir doch mal realistisch

Wenn man die Konflikte und das Leiden in unserer Welt auf die Ursachen hin untersucht, enthüllt sich ein stetes, wiederkehrendes Prinzip, das wir als „Realitätsverlust“ kennen. „Was ist Realität?“ ist eine der bedeutsamsten Fragen, die wir Menschen uns stellen können. Finden wir eine wahrhaftige und weise Antwort darauf, beginnen sich Konflikte und Leiden wie von Geisterhand aufzulösen, denn der Mensch schwingt wieder im Einklang mit dem universellen Prinzip (Dharma), dem reinen, göttlichen Sein, das die Vielfalt der Schöpfung, das scheinbare Sammelsurium an Unvereinbarkeiten, von ganz allein in ein harmonisches Gleichgewicht fügt.

Der Mensch ist jedoch bezüglich der Deutungshoheit von „Realität“ mächtig ins Straucheln geraten. Unzählige Realitäten konkurrieren miteinander, was in der Binsenweisheit „des einen Freud ist des anderen Leid“ zum Ausdruck kommt. Wenn wir von der metaphysischen Betrachtung ausgehen, dass „wirkliche Realität“ ein unumstößliches, unveränderliches und absolutes Prinzip sein muss – die vedische Überlieferung sagt Brahman dazu –, kann es also in einer sich beständig verändernden und vergänglichen Umgebung (Maya) keine absolute Realität geben. Wird eine solche eben noch von jemandem behauptet, kann sie im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden sein.

Wenn also ein so genannter „Realist“ von Realität spricht,  und diese mit medialer Macht in die Welt hinausposaunt, so meint er immer eine relative Realität, seine subjektive Realität. Diese ist von Filtern wie Meinungen, Wissensstand, Vorlieben, Abneigungen, Wünschen, Absichten und Samskaras – den unzähligen in uns gespeicherten Samen/Eindrücken – geprägt, die zusammen ein künstliches Gesamtwerk der Projektion und Einbildung erschaffen. Wird diese zudem mit starken Ich-Kräften und Emotionen wie z.B. Narzissmus, Gier, Neid, Angst, Wut oder Anhaftung aufgeladen, kann eine solche Einbildung leicht zur „Psychose“ mutieren, zu einer starken Vorstellungskapsel, die wahnhafte und halluzinative Züge annimmt. Problematisch wird es dann, wenn der Halluzinierende nicht mehr weiß, dass er halluziniert, weil er sich mit seiner Halluzination vollständig identifiziert. Er vermag es dann nicht mehr, eine Atempause einzulegen, und sich zwischen oder während seinen Halluzinationen im seligen und stillen Grund wahrhaftigen Seins zu verankern. Nur von diesem inneren Ort aus ist es möglich, als Zuschauer den eigenen Projektionen aus Licht und Schatten auf der Schaubühne des Lebens mit Distanz und Losgelöstheit beizuwohnen.

Noch problematischer wird es, wenn zu den psychotischen auch psychopathische Tendenzen hinzukommen und ein Mensch mit politischer, wirtschaftlicher oder medialer Macht ausgestattet ist, die ihn kraft seiner Position über jedwede klinische Diagnostik erhaben macht. Da es ein Kennzeichen von Wahnsinn ist, dass der Wahnsinnige seine gesamte Mitwelt von seinem Wahn überzeugen möchte, müssen wir nur nach den übereifrig überzeugenden Kräften in der Welt schauen, um fündig zu werden. Diese zielen in ihrem Überzeugungswahn auf die Kollektive der Menschheit, versuchen manipulativ möglichst viele in ihre Wahnvorstellungen hineinzuziehen, um ihnen ihren Tunnelblick auf die Lebensprozesse aufzuzwingen, sprich, die Sicht aus ihren Fenstern, aus ihren „Windows“, auf die Welt. Das Grundprinzip einer Wahnvorstellung ist der Versuch, aus etwas Relativem eine Absolutheit zu schmieden. Dieser Vorgang sondert immer den Geruch des Ideologischen und Fanatischen ab. Man erkennt ihn zudem am unverblümten Griff nach dem Totalitären. Unsere gesamte „Cancel Culture“ ist daran erkrankt.

Nun gibt es aus spiritueller Sicht keine größere Unwissenheit (Avidya), als etwas in einer der Vergänglichkeit unterworfenen Welt zur Absolutheit zu erheben, und sich damit zu identifizieren. Denn alle Projektionen werden unweigerlich vom Takt der Zeit als deren Kinder wieder aufgefressen. Dies führt durch den Schmerz des Verlusts zu Enttäuschung, Konflikt und Leid, was den Menschen zu weiteren endlosen samsarischen Handlungen antreibt.

Und dennoch gibt es das Absolute als „Realität an sich“, als „die wahre Wirklichkeit“, als urgründiges Substrat der Schöpfung, dieselbe ermöglichend, jedoch gänzlich jenseits und unberührt davon. Wie die Sonne, die vom konfliktreichen Treiben der Menschen unberührt und losgelöst ist und dennoch mit ihren lebendigen Strahlen die Schöpfungsprozesse auf der Erde durchdringt, ja überhaupt erst ermöglicht. Dieses Gottes­prinzip (Brahman) ist als wirkliches Absolutes unentstanden, ursachenlos, unbeweglich, unveränderlich, ewig und aus sich selbst strahlend. Nähern wir uns ihm aus der Perspektive des wahrnehmenden Verstandes heraus, ist es die Quelle vollkommener Schönheit und Glückseligkeit, ist es immer das reine, göttliche Sein, das durch den Schein der Schöpfung als Schönheit hindurchscheint. Da es niemals wertet, urteilt, richtet und berechnet, kann es alles durchlieben (Priya) und deshalb sein lassen. So auch das Böse, Konflikttragende, das dieser „Realität“ nicht ins (innere) Auge schauen mag, das sich aus Unwissenheit von ihm getrennt hat, weil ihm die Psychose der Zwietracht vorteilhafter als die Liebe der Eintracht erscheint, und es sich dadurch freiwillig in die entfernten, dichten und dunklen Schichten der Schöpfung begeben hat. Dort schürft es aus einem geheimnisvollen Antrieb heraus immerzu gierig nach Gold und Geld und weiß noch nicht, dass hinter dem Goldrausch die berauschende Quelle ewiger Glückseligkeit (Ananda) verborgen ist, die sich ihm nach einer langen, mühevollen Reise eines Tages wieder enthüllen wird. So werden am Ende alle Wesen von der „Realität“ wieder eingeholt.

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