Für dreißig Silberlinge liefert Judas Iskariot seinen Meister Jesus an die „Behörden“ aus. Hinterher tut’s ihm leid. Enthüllt man die Bildersprache dieser biblischen Überlieferung, indem man die daran mitwirkenden Kräfte „entpersonifiziert“ und sie als Archetypen, als im Menschenwesen vorhandene Bewusstseinsfelder, betrachtet, so verrät der „Verstand Judas“ sein „höheres Selbst Jesus“. Dieses Verratsprinzip ist Teil des Menschen und spult sich Tag für Tag unzählige Male in uns ab – kollektiv wie individuell –, indem wir durch fehlgeleitete Gedanken und Handlungen unser wahres und wirkliches Wesen, unser Christus-Atman-Wesen, übergehen, leugnen und an die Logik des Verstandes mit seiner „Ja-aber-Mentalität“ ausliefern. Gleichzeitig leitet jedoch das Vergessen unserer Wesensessenz über eine unweigerlich daraus entstehende Krise einen heilsamen Wiedererinnerungsprozess ein, den Platon Anamnesis nennt: die Wiedererinnerung an unsere wahre Natur, die dem Christus-Atman-Prinzip entspricht.
Laut der apokryphen, gnostischen Überlieferung des Judas-Evangeliums ist Judas nicht der Böse, sondern der Lieblingsjünger von Jesus, und sein „Verrat“ Teil eines größeren Plans, der zur Natur des Menschen gehört. Das höhere Selbst, der Christus-Atman, der beim Inkarnieren in einen Körper aus Fleisch und Blut zum Jivatman (= im Körper wohnende Seele) wird, erhält als innigen Gefährten den Verstand Judas an die Seite gestellt, den er als Kontaktinstrument braucht, um auf der irdisch-dualen Dimensionsebene interagieren zu können. Doch das Verstandesinstrument Judas ist anfällig für Verlockung, Verführung, Manipulation und Täuschung. Getrennt und ohne sein Meister-Bewusstsein, den Jivatman Jesus, ist es geistig blind. Durch diese Blindheit kommt es leicht zu falschen Identifikationen und falschen Vorstellungen, die, einmal an einem kritischen Punkt angekommen, den angesprochenen Verratsprozess einleiten.
Nach dem Verrat am Jivatman-Wesen Jesus für dreißig Silberlinge und seine Auslieferung an die Hohepriester muss der Verräter Verstand Judas mit der Schuld leben, die aus dem Verrat und der Abspaltung von Jesus resultiert. Es kommt zu einer psychischen Krise, in deren Verlauf sich Judas erhängt. Erst danach wird die Kreuzigung Jesu vollzogen, die ihn zum verwirklichten Christus werden lässt, was ohne den vorausgehenden Verratsprozess nicht hätte geschehen können. Der die Wesensessenz überlagernde Verstand Judas muss also im ersten Schritt in uns „sterben“ – sprich, vollkommen zum Stillstand kommen und in samadhischer Stille seine Auslöschung erfahren. Dies ermöglicht dann dem Christus-Atman im Menschen, zu erwachen und die Vollkommenheit des Christusbewusstseins als unsere unsterbliche Essenz zu verwirklichen.
Hier wird auch die grundlegende Bedeutung einer Krise (von griech. krisis = Entscheidung) deutlich, welche, wenn sie initiatisch durchlebt wird, zur „Ent-scheidung“, zum „Ende des Scheidens“ und Ende des Trennens, zur Non-Dualität führt. Diese entspricht als „Eines-ohne-ein-Zweites“ dem bedingungslos liebenden Christusbewusstsein. Der Erlangung des Christusbewusstseins geht also immer eine initiatische „Chris-is“ voraus.
Ich fasse noch einmal zusammen: In der Überlieferung erhält der Verstand Judas von den Hohepriestern für das „Verraten“ des geheimen Aufenthaltsortes des höheren Selbst Jesus als Energieausgleich dreißig „Silberlinge“, oder anders gelesen: dreißig „Selber-linge“. Diese stehen symbolisch nicht nur für den „karmischen Lohn“ des Verrats, sondern auch dafür, im daraus folgenden Krisengeschehen wieder zu sich „selber“ zu finden, und sich ganz „silbern“ über die weibliche Mondkraft ins empfindsame Innere zu begeben, und das höhere Selbst, das verborgen und unsichtbar im „Geh-heim-en“ des Herzens wohnt, als reines, sonnengleiches „Christ-All“ wieder zu erinnern. Diese Prozesse spielen sich allesamt im Inneren des Menschen ab und drücken sich – wie innen so außen – entsprechend im Zeitgeschehen aus.
So ist es besonders in den letzten Jahren während der Coronazeit in der Menschheit zu einem kollektiven „Massenverrat“ am göttlichen Selbst gekommen. Das seither aufkeimende Denunziantentum und die daraus entstandene Verfolgung „Andersdenkender“ im Namen einer bizarren Vorstellung von „Demokratie“ steht symbolisch für das Verraten und die Offenlegung des (Bewusstseins-)Standorts derer, die bereits ein Leben aus der überbewussten Intuition und das Schöpfen aus den Tiefen des seelischen Empfindens in sich initiiert haben. All diese werden der käuflichen und manipulierbaren „Verstandeslogik“, die überaus dreist als „Follow the Science“ proklamiert wird, nicht mehr einfach blind Folge leisten. Somit wird mit jedem „Verrat“ und jeder öffentlichen, medialen „Kreuzigung“ der alchemistische Judas-Christus-Prozess aktiviert. Dieser ruft im kollektiven wie im individuellen Bewusstsein das Prinzip des Wahrhaftigen zur Verwirklichung, welches unaufhaltsam damit begonnen hat, in der Menschheit anzuwachsen. Der Kipppunkt wird dann erreicht sein, wenn uns das Christusprinzip in dir und mir vermittels seines Gehilfen Judas „verraten“ hat, wer wir in Wirklichkeit sind. Wenn das Bewusstsein vom göttlichen „Selbst“, das aus reinstem und kostbarstem „Krist-All“ besteht, wieder zur „Selbst-verständlichkeit“ geworden ist und Judas mit Jesus in Christus in einer ausreichenden Anzahl von erwachten Menschen verschmolzen ist.